Am 15.
Juni 1767 erhebt sich der zwölfjährige Cosimo Piovasco di Rondo von der Tafel, klettert auf eine Steineiche und beschließt, sein Leben auf den Bäumen zu verbringen. Äußerer Anlass ist seine
Weigerung, zur Vor- und Hauptspeise Schnecken zu essen, denen er zuvor zur Flucht verhelfen wollte. „Niemals hatte man ärgeren Ungehorsam erlebt.“ Was aussieht wie der sture Eigensinn eines
Jungen, enthält tiefere Ursachen: Es ist die Zeit der Aufklärung, doch Cosimos Vater, der Baron di Rondo, hält stoisch an seinen Privilegien fest. Alle Hoffnungen auf eine Rückkehr des verlorenen
Sohnes bleiben unerhört. Cosimo richtet für ein spartanisches Leben in den Gipfeln der weitläufigen Wälder Ombrosas ein und betritt nie wieder den Erdboden.
Aus
dieser Grundsituation entfaltet Italo Calvino (1923 – 1985) ein tiefgründiges Erwachsenenmärchen, das Züge eines Abenteuerromans enthält. Cosimo erlegt eine Wildkatze, schließt Freundschaft mit
obstklauenden Strolchen und besorgt Büchernachschub für den lesesüchtigen Raubmörder Gian dei Brughi. Er wächst heran und altert, beobachtet von oben das vertrocknete Adeligenleben seiner
Familie, wird Mitglied einer Freimauerloge, sucht nach seiner Jugendliebe, führt Korrespondenzen mit den geistigen Koryphäen der Zeit, erarbeitet einen Entwurf einer Verfassung für ein republikanisches Staatswesen mit Erklärung der Menschenrechte, der Rechte der Frauen, der Kinder, der Haustiere und
der wilden Tiere einschließlich der Vögel, Fische und Insekten sowie der Bäume, Gemüse und Gräser und hält ein Pläuschen mit einem Feldherren namens Napoleon Bonaparte.
In der
Art, einem historischen Schauplatz skurrile Gestalten zuzuschreiben, erinnert der Roman an Kehlmanns Die
Vermessung der Welt; in dem Durchdenken der logischen Folgen einer absurden Situation an die Romane des portugiesischen Nobelpreisträgers José Saramago; doch
Calvino übertrifft beide bei der Erfindung poetischer Details: Gleich zu Beginn, noch zwölfjährig, spiest der junge Baron mit seinem Kinderdegen eine Wildkatze auf, doch statt über sein erstes
Jagdopfer zu jubeln, presst er sich an den Baumstamm und den Kadaver, bricht in Tränen aus und ahnt, „daß Siegen eine Qual bedeutet; daß er von jetzt an dazu verpflichtet ist, auf der
eingeschlagenen Bahn fortzuschreiten, und daß ihm der Ausweg des Scheiterns nicht vergönnt sein wird.“ Wunderbar und von erschreckender Förmlichkeit das letzte Gespräch, zu dem Cosimos Vater den
Jungen im 14. Kapitel aufsucht. Und als der alte, feige Geistliche Fauchelefleur, der Erzieher Cosimos und seines Bruders, aufgrund der ketzerischen Lektüren seines Schützlings verhaftet wird,
„blickte (er) zu den Bäumen empor; einen Augenblick durchzuckte es ihn, als wollte er auf eine Ulme zulaufen und hinaufklettern, aber die Beine versagten ihm den Dienst.“ Die 276 Seiten des
Romans wimmeln von solchen unerwarteten Details, mithilfe derer sich tragische Töne in Calvinos Heiterkeit mischen.
Wer sich
von einer langen, aber klaren Syntax und einer bisweilen barocken Sprache nicht abschrecken lässt, findet mit Der Baron in den Bäumen ein tiefsinniges Abenteuer, das nicht mit der Jugendzeit des Helden endet, sondern seinen Weg bis hin zu Alter und Sterben verfolgt.
-- A.D.
Italo Calvino: Der Baron auf den
Bäumen (Taschenbuch)
Fischer Klassik
978-3596904419
9,99 Euro
Weitere Bücher des Autors:
Der geteilte Visconte -- eine Jekyll and Hyde-ähnliche Geschichte über einen
Visconte, der in zwei Hälften zersplittert aus dem Krieg heimkehrt
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